Routinen sind doch „lame“, total langweilig, der Inbegriff von Spießigkeit und Stillstand. So dachte ich immer, wenn mir andere davon berichteten. Aus meiner Sicht waren sie ein Bremsklotz für Leidenschaft und Motivation. Mir fielen spontan nur negative Assoziationen ein wie: Alltagstrott, Automatismus oder Tretmühle. Also alles Dinge, die mir nicht entsprachen, die ich komplett ablehnte.
Mein Wendepunkt war der Moment, als ich mit meiner Psychoonkologin mal wieder über meine Ängste sprach. “Frau Rausch, Routinen könnten eine Möglichkeit sein, sich aus der Angstanspannung zu lösen. Es muss ja nichts Großes sein. Schon der bewusste Kaffeegenuss am Morgen reicht .”
Inhaltsverzeichnis auf einen Blick
Was war passiert?
Ich war unzufrieden und unruhig, aber das Schlimmste war, dass sich abends im Bett eine starke Beklemmung breit machte, als läge ein Stein auf meiner Brust. Ich hatte Not und machte mir Sorgen um alles. “Was wird, wenn … “ oder “Wann werde ich endlich wieder …” oder einfach irgendeine Begegnung, die mich völlig aus dem Selbstbewusstseinskonzept brachte, mich an allem, insbesondere an mir zweifeln ließ.
Eigentlich komisch, denn meine Therapie lag hinter mir. Ich sollte mich doch eigentlich frei fühlen und früh darüber sein, was ich alles geschafft hatte. Aber nein, genau das Gegenteil war der Fall.
„Versuchen Sie es doch mal. Zwei Wochen lang nehmen Sie sich zwei kleine Routinen vor. Eine für morgens und eine für abends und schauen Sie mal, was das mit Ihnen macht.“, empfahl sie mir.
Okay: „Versuch macht kluch!“ und meine Ratgeberin war ja schließlich eine Expertin auf diesem Gebiet.
Anmerkung der Autorin: Daher hieß die erste Fassung dieses Beitrags aus dem Jahr 2021 auch: “Routinen sind Helfer in der Not.” Das habe ich jetzt etwas konkretisiert, weil mir die Einordnung und der Nutzen dieser Methode noch klarer geworden sind.
Routineplan, der erste
Auf meiner ersten Routineliste machte der Kaffee den Anfang. Das gehörte ohnehin seit Jahren in mein Programm und ist immer das Erste, was ich nach dem Aufstehen tue.
1. Richtig guten Kaffee kochen mit meiner neuen italienischen Mini-Espressomaschine und den dann mit aufgeschäumter Milch genießen.
2. Um 9:30 Uhr zehn Minuten radeln auf meinem Hometrainer.
3. Abends um 20 Uhr einen heißen Tee trinken.
Das sollte für den Start mal reichen. Ich wollte mich ja nicht gleich in ein Verabredungskorsett zwängen.
Der positive Effekt stellte sich schnell ein. Eine innere Ruhe machte sich breit. Und das Schöne war, meine Einschlafprobleme, das Grübeln im Bett wurde weniger. Immer wenn die dunklen Gedanken anklopften, dachte ich an den morgigen Tag. An den wohlduftenden Kaffee und meine kleine Radeleinheit.
Danach erweiterte ich in der vierten Woche das Programm und nahm für 14 Uhr den Spaziergang oder, damit diese Verabredung nicht ganz so „schnarchig“ klingt, den Walk dazu.
Immer mindestens 30 Minuten, aber auch nicht länger als eine Stunde, zog ich im Kiez meine Runde. Es war wirklich eigenartig, aber diese Routinen entspannten mich. Es hatte etwas Verlässliches.
Dazu fiel mir ein, dass ich vor zwei Jahren eine junge Frau auf dem Flur im Krankenhaus getroffen hatte, die ich aus einem Seminar kannte. Sie saß mit gesenktem Kopf und angezogenen Beinen auf einem Stuhl im Wartebereich der Ambulanz. Als ich sie fragte, was passiert sei, antwortete sie mir:
„Meine Therapie ist zu Ende, ich darf nicht mehr kommen.“
Als ich entgegnete, dass das doch eine gute Nachricht sei, kullerten ihr die Tränen nur so übers Gesicht und sie brachte dann unter Schluchzen heraus:
„Ja, eigentlich schon, aber ab nächster Woche, darf ich nicht mehr hierhinkommen. Die sind mir hier alle so ans Herz gewachsen … und … ich wusste immer was ansteht, wo ich hin muss, jetzt hänge ich total durch und habe große Angst vor dem, was kommt.“
Mir hatte sich diese Begegnung so ins Gedächtnis gebrannt, weil die Verzweiflung von Josie zu greifen war, ich aber gleichzeitig nicht so recht verstand, warum sie so untröstlich war.
Ich hätte damals so gerne mit ihr getauscht und hätte Luftsprünge gemacht – dachte ich.
Jetzt plötzlich verstand ich sie, mir ging es sehr ähnlich. Ich war zwar nicht verzweifelt, aber doch irgendwie suchend, geradezu verloren.
Anmerkung: Zu dieser “verflixten dritten Phase” habe ich einen längeren Beitrag geschrieben, der vielleicht auf für dich interessant sein könnte. Hier der Link dazu: Therapiefreiheit hat ihren Preis – Die verflixte dritte Phase, über die niemand spricht – Zellenkarussell
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Routinen werden zu guten Freunden
Die Routinen, meine Routinen haben nach ihrer Einführung und den liebevoll-unterstützenden Worten meiner Therapeutin den haltgebenden Platz der Therapie übernommen. Nein eigentlich mehr, sie sind mir gute Freunde geworden.
Na ja gut, vielleicht nicht ganz, aber doch so, dass ich wieder etwas Verlässliches habe, was mich auffängt, mir Halt gibt.
Gerade wenn sich die Dinge um dich herum ständig ändern oder du damit rechnen musst, dass wieder irgendetwas Unerwartetes auf dich zu kommt, ist das sehr angenehm. Wir haben, so denke ich, alle die Erfahrung gemacht, dass der Körper immer wieder kleine Überraschungen parat hält, die wir so noch nicht kannten. Das kann ganz schön verunsichern, ohne Frage.
Mit deinen “neuen Freuden” weißt du einfach genau, was wann dran ist, und hast es auch noch selbst bestimmt. Niemand hat dir gesagt, was du tun sollst, du hast dir eine eigene Struktur um dich herum gebaut.
Bei dem berühmten österreichisch-amerikanischen Pädagogen und Psychiater Dr. Rudolf Dreikurs fand ich dann eine Erklärung, die eigentlich auf die Bedeutung von Routinen bei Kindern zugeschnitten ist.
Nämlich, dass …
„… die tägliche Routine für ein Kind, das ist, was die Wände für ein Haus sind: Sie geben ihm Grenzen und Raum fürs Leben. Kein Kind fühlt sich in einer Situation wohl, in der es nicht weiß, was es erwarten soll. Die Routine gibt Kindern ein Gefühl von Sicherheit. Eine fest verankerte Routine gibt einem das Gefühl von Ordnung, woraus wiederum ein Gefühl von Freiheit entsteht.“
Das passte. Genauso empfand ich es.
Routine kommt übrigens aus dem Französischen „routine“ und bedeutet Wegerfahrung. Damit bezeichnen wir Fähigkeiten, die dadurch erworben werden, dass sie über einen gewissen Zeitraum immer wiederholt wurden.
Für Menschen nach einem Trauma bedeutet das: Sie erlangen wieder mehr Sicherheit und irgendwann auch wieder mehr Leichtigkeit.
Erst funktionieren, dann strukturieren
Nach einer lebensbedrohenden Diagnose ist es sehr schwierig, wieder Vertrauen zu gewinnen, vor allem Vertrauen in den eigenen Körper zu haben, neue Perspektiven zu entwickeln oder gar loszulassen, locker zu bleiben.
Genaugenommen ein Witz. Das gehört in die Kategorie: Sonst noch was?
Wie soll das denn gehen?
Gerade eben wurde dir der Boden unter den Füßen weggezogen und da redet jemand von Vertrauen haben und lockerlassen.
Der erste Moment
Im allerersten Moment können wir alle erst mal „nur“ funktionieren und versuchen dabei, den Schock zu überwinden, sagte mir meine Psychoonkologin.
Das ist ganz normal.
Ich habe das einmal mit einer Ballmaschine beim Tennis verglichen. Jeder Ball, den die Maschine auswirft, versuchst du erst einmal übers Netz zu bekommen. Besonders dann, wenn die viel zu schnell eingestellt ist, kannst du nicht groß überlegen, wohin die Filzkugeln fliegen, geschweige denn, wo sie landen sollen.
Das Funktionieren hilft – zunächst.
Du tust etwas und du lenkst dich gleichzeitig ab.
Jetzt kommt die Struktur
Dann aber, nach einer gewissen Zeit, spielt die regelmäßige Struktur eine große Rolle. Du brauchst eben neue Taktgeber, neue Richtachsen.
Ganz besonders, wenn dir mit der Erkrankung die Regelmäßigkeit der Arbeitsroutine genommen wurde.
Du baust dir deine eigene Agenda und fängst erst einmal langsam wieder damit an, dir kleine Eckpunkte, kleine Ankertermine in den Alltag einzubauen.
Das gibt dir Halt.
Denn gerade der geht dir nach traumatischen Erlebnissen verloren. Und ganz klar, eine lebensbedrohende Diagnose ist ein traumatisches Ereignis. Punkt.
Schritt für Schritt gewinnst du wieder Boden unter den Füßen.
So erging es mir auch. Ich wusste ganz genau, was auf mich zu kommt, auf was ich mich freuen kann. Und gerade beim Einschlafen (siehe oben) beruhigte mich das ungemein. Und noch eine Tatsache verblüffte mich: die Regelmäßigkeit schaffte Freiräume in meinem Kopf. Meine Kreativität war nicht mehr blockiert durch meine lähmenden Gedanken und Verlorenheit im Tag selbst.
Woran liegt das?
„Sie schauen wieder voraus, Nella. Sie bauen sich eine kleine Perspektive auf und erobern sich Ihr Terrain zurück. Auch wenn es ganz kleine Schritte sind, helfen sie enorm.“
Oder frei nach dem Physiker und Begründer der Quantenphysik Max Planck.
„Wenn du die Art und Weise änderst, wie du die Dinge betrachtest, dann ändern sich die Dinge, die du betrachtest.“
In meinen Worten: Du wirst wieder mehr zur Gestalterin, zum Gestalter deines Lebens. Dass das wichtig ist, wissen wir im Grunde alle, wir vergessen es nur gerne. Mir geht es immer dann besser, wenn ich etwas mache, etwas (er)schaffe. In den Tag hineinleben kann entspannend sein, befriedigt allerdings nur kurzfristig oder ist einfach unumgänglich, weil wir erschöpft sind.
Inzwischen habe ich meine eigene Routine etwas verändert. Denn auch das ist das Gute an diesem Mechanismus: Du kannst ihn verändern. Das ist übrigens nebenbei bemerkt ein wesentlicher Unterschied zu Ritualen.
Ungefähr nach sechs Wochen, manche sagen auch nach 70 Tagen, geht dir das neue Programm in „Fleisch und Blut“ über. Was aber wichtiger ist als diese Zeitangabe ist die längere Ausrichtung. Beobachte dich einfach selbst, wann der Moment ist, wo du dich schon auf deine Routinen freust.
Jetzt mache ich es so:
Morgens kurz nach dem Aufwachen mache ich mir einen Espresso nach meiner ureigenen Zubereitungsweise, die ich immer wieder ein wenig variiere. Dann setze ich mich an meinen Schreibtisch und beginne frei zu schreiben. Das bedeutet, ich notiere mir ungefähr fünfzehn Minuten lang, was mir in den Kopf kommt: Gedanken, Ideen für meinen Blog, Pläne für den Tag oder auch Traumerinnerungen.
Dieses so genannte „Journaling“ macht meinen Kopf frei, so dass ich klar in den Tag starten kann. Da ich ohnehin gerne schreibe, hilft mir das sehr. Danach mache ich tatsächlich immer noch meine kleine Radtour. Um 18 Uhr klappe ich meinen Laptop zu und notiere mir auf einem Post-it, was morgen ansteht. Den Tee am Abend habe ich beibehalten.
Zwei andere Modelle:
Meine Freundin zum Beispiel startet immer mit Yoga und einem Sonnengruß. Vier Wiederholungen reichen ihr. Danach nimmt sie sich 30 Minuten zum Lesen der Tageszeitung am iPad. Sie trinkt dazu gerne einen Grünen Tee und bereitet sich eine Schale mit Porridge/Haferbrei zu.
Ein Freund geht abends immer mit seiner Frau spazieren. Regelmäßig um 18 Uhr. Danach wird gemütlich zu Abend gegessen.
Mein Tipp: Baue einen „Trigger“ ein
Die Routine-Formel lautet:
Auslöser (Trigger) -> Aktion (Action) -> Belohnung (Reward)
Viele Routinen haben einen Auslöser, einen Trigger. Gerade am Anfang ist das sehr hilfreich.
Drei Beispiele:
„Wenn mein Wecker klingelt, schnappe ich mir meine Turnschuhe und gehe spazieren.“
Oder: „Ich lege mir meine Hanteln neben das Bett, damit ich gleich nach dem Aufstehen daran denke, meine Übungen zu machen.“
Oder: „Immer, wenn ich merke, dass meine Schulter verspannt ist, ziehe ich sie bis zu meinen Ohren hoch und lass sie fallen. Das wiederhole ich drei Mal.“
So fällt es leichter, Routinen umzusetzen und dranzubleiben. Außerdem lösen sie im richtigen Moment das Verhalten aus, das uns guttut, das ist dann die Belohnung.
7 Fakten zu Routinen:
- Routinen geben dir eine Tagesstruktur, sie sind sanfte Taktgeber. Gerade wenn gewohnte Abläufe verwischen, beispielsweise, weil fixe Arbeitszeiten mit Hin- und Rückfahrt zum Büro wegfallen, können Routinen trotzdem bestimmte Tagesabschnitte einläuten und dazu beitragen, positive Gewohnheiten zu etablieren und schlechte zu “überschreiben”.
- Routinen geben dir das gute Gefühl, deine eigene Agenda zu erstellen. Was wann dran ist, bestimmst du. Das stärkt dich und deine Eigenverantwortung.
- Routinen geben Freiräume für Kreativität, weil sie das Gehirn entlasten.
- Routinen geben dir Sicherheit und lösen einen sogenannten Stabilitätsmechanismus aus, der wiederum Teil eines gesünderen Lebensstils ist, weil sich unter anderem dein Schlafverhalten und damit die Qualität deines Schlafs verbessert.
- Routinen machen unabhängig. Durch das Einführen von Routinen müssen wir uns weniger Gedanken machen, wie unsere Reaktion auf veränderte Umstände ausfällt.
Die Entscheidung für das Verhalten ist unabhängig vom Äußeren: „Am Freitag drehe ich meine Runde durch den Wald, egal ob es regnet oder nicht.“ Diese kleine Selbstverpflichtung lässt den inneren Schweinhund alt aussehen und ist ganz automatisch Teil der Selbstfürsorge. Mit dem Einführen der Routine erlaubst du dir eine kleine Auszeit, einen Termin mit dir. Aber Achtung: Wird diese Verabredung zu Stress, wird es Zeit, die Routine anzupassen. So war das nicht gedacht.
- Denn: Routinen sollten immer so angelegt sein, dass sie an unvorhergesehene Ereignisse oder Veränderungen angepasst werden können. Flexibilität ermöglicht es, auf neue Anforderungen oder Prioritäten zu reagieren, ohne dass die gesamte Struktur zusammenbricht.
- Die ausgewählten Routinen sollten realistisch sein und zu deinem Alltag passen. Wenn du zu viele einbaust, ist das kontraproduktiv. Dein Tag soll schließlich keine einzige Routine sein.
Jetzt bist du dran.
Baue dir deine Routine(n) zusammen.
Fang vielleicht wie ich, erst einmal klein an und dann feilst du dein Routine-Konzept weiter aus und passt es nach deinen Erfahrungen an..
Viel Erfolg dabei!
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