Alles auf Neuanfang? Wenn der Krebs dein Leben auf den Kopf stellt.
Teil 2 des Interviews mit dem Experten für Existenzanalyse Thomas Zimmermann.
Der zweite Teil meines Gesprächs mit Thomas Zimmermann, denn dazu ist es inzwischen geworden, mit der Überschrift:
„Alles auf Neuanfang? Wenn der Krebs dein Leben auf den Kopf stellt.“ greift die Gedanken von Viktor Frankl und seiner Existenzanalyse auf und transferiert sie ins Hier und Jetzt.
Dabei beschäftigen uns unter anderem folgende Fragen: Welchen Zweck haben Bucket-Lists? Brauchen wir Krisen? Wie finde ich einen Job, der jetzt zu mir passt?
Den Auftakt zur Fortsetzung läutet eine fast übergroße Frage ein, nämlich:
Frage: Wie kann ich herausfinden, was mir im Leben fehlt?
Wie kann die Existenzanalyse, mit der wir uns im ersten Teil dieser Folge bereits intensiv beschäftigt haben, dabei helfen.
Seine Antwort verblüfft mich zunächst. Denn Thomas Zimmermann entgegnet mir: „Vielleicht schauen wir erst einmal, was ist denn schon alles da. So wenig ist das ja gar nicht.“ Nicht aus der Minusrichtung, nicht defizitär denken.
Erst dann kannst du in dich „hineinspüren“ und dich fragen: „Was möchte ich gerne noch haben?“
Dafür ist es gut, offen zu sein. Die viel zitierte Achtsamkeit entfaltet genau hier ihre Berechtigung. Also erst einmal schauen: Wie ist das alles für mich? Das ist eine schöne Basis, um besser mit sich in die Tiefe zu gehen. Er empfiehlt auch, sich dafür professionelle Sparringspartner zu suchen, die Anregungen und neue Fragerichtungen aufzeigen können. Das sind zum Beispiel Psychoonkologen oder Coaches.
Dann kann ich mich fragen: Wo hatte ich die schönsten Erlebnisse in mein Leben? Was hat mir als Kind Spaß gemacht?
Eventuell lässt sich die alte Freude wieder revitalisieren.
Insgesamt, so sagt er, erhält man dadurch mehr Tiefe, „die bisher doch sehr gelitten hat.“
Frage: Die Sache mit der Bucket-List. Was hält Thomas Zimmermann davon?
Ich selbst (Nella) hatte keine Bucket-List aufgestellt, weil mich derartige Listen einfach unter Stress setzen. Mein Gesprächspartner hält das Erstellen dieser Liste dagegen für äußerst sinnvoll.
Diese Aufstellung hilft, die Träume zu überprüfen, selbst mit sich ins Gespräch zu gehen. Es könnte ja sein, dass ich eventuell in die falsche Richtung laufe.
Buchtipp an dieser Stelle von einer Australierin (Bronnie Ware), die Sterbende gefragt hat, welche Wünsche noch offengeblieben sind. Den Link zum Buch – und viele andere – findest du unter diesem Beitrag.
Und dann meint er: „Wir dürfen in diesem Leben auch einmal zufrieden sein. Das wäre tatsächlich auch eine Idee jenseits von Listen.“
Frage: Was sind die „Werkzeuge“, um einen neuen Weg einzuschlagen, wie kann ich ihn erkennen?
„Die Frage ist richtig, aber zu technisch.“ Seine Antwort ist kurz und klar: „Ich werde es spüren.“
Beste Voraussetzung dafür ist das Annehmen der Situation, nicht immer gegen geschlossene Türe rennen.
Und sich selbst einmal fragen, welche Handlungsoptionen habe ich? Schließlich dann doch der Tipp: Offen für Neues zu sein. Meint, Dinge zu versuchen, die ich mich noch nicht getraut habe anzugehen. Sich einfach mal zu trauen. Die berühmte Komfortzone verlassen.
Schließlich kamen wir doch auf vier Zutaten, nämlich: 1. Mut, 2. Vertrauen in sich selbst, 3. Flexibilität und 4. Offenheit.
Frage: Wie haben Krisen Menschen verändert? Sind sie gewachsen oder haben sie ihnen langfristig gesehen eher geschadet? Wie wichtig ist die sogenannte Resilienzfähigkeit dabei?
Ich hatte vor kurzem aufgeschnappt, dass 84 % der Menschen, die im Rahmen einer Studie zu ihrem Leben nach einer Krise befragt wurden, angaben, an dieser gewachsen zu sein. Das ist doch eigentlich erfreulich und macht Mut.
Welche Rolle spielt dabei die Fähigkeit zur Resilienz, also die Fähigkeit nach einer Belastung wieder in die „alte Form“ zurückzuspringen? Ist sie Voraussetzung dafür, dass ich Krisen als Lernansatz verstehe, sie besser bewältige?
Resilienz ist wichtig, um lernen zu können, zu sehen, dass ich mich auf mich verlassen kann, sagt mir Thomas Zimmermann dazu.
Sylvia Kéré Wellensiek hat sich intensiv mit dieser Thematik beschäftig und zahlreiche Werke dazu veröffentlicht (eines dazu, siehe unten). Wenn dich das interessiert, könnte eine ihrer Bücher eine gute Lektüre für dich sein.
Zurückkommen in einen handlungsfähigen Zustand, das ist das Entscheidende an diesem Ansatz.
„Das Wachstum liegt darin, dass ich mir selbst nähergekommen bin, meine Grenzen und Möglichkeiten erfahren, aber auch neue Weg akzeptiert und entwickelt habe. Am Ende stehen mehr Selbstbewusstsein und Selbstgewissheit.“
Ältere Menschen können besser loslassen und andere Wege finden, u. a. auch deswegen, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass der möglich erscheinende Weg in einer Sackgasse endet. Das spart Kraft.
Frage: Ohne Krise fehlt dir was – kann man das so sagen?
Das war eine These, die Thomas Zimmermann in unserem Vorgespräch zu dem Krisenpart formulierte. Ich meinte dazu: „Es soll ja Menschen geben, bei denen alles cremig läuft. Muss ich die denn jetzt bedauern, wenn ich deiner Theorie Recht gebe?“
Seine trockene Antwort: „Von diesen Menschen habe ich auch schon gehört, nur habe ich sie nie getroffen.“ Je genauer man hinschaut, desto mehr erkennt man, dass da einiges im Argen liegt. „Man bekommt nichts umsonst.“
Und auch wenn sich das etwas abgenudelt anhört, ja, Krisen können durchaus Chancen beinhalten, mindestens die, Neues, Anderes zu lernen.
Frage: – Wird die Frage nach dem, richtigen Leben heute häufiger gestellt? Ist das eventuelle eine Art Trend?
Nein, das beobachte er nicht. Dennoch hat Thomas Zimmermann die Hoffnung, dass uns gerade die jüngsten Ereignisse, sei es Corona, die Flutkatastrophe oder die fürchterlichen Brände dazu führen, dass wir merken, dass es am Ende oder besser gesagt unterm Strich wir selbst sind, die uns helfen können und müssen.
Diese Einsicht führt uns günstigstenfalls wieder zu unserem Kern zurück.
Das bedeutet aber nicht, und darauf legt er großen Wert, dass wir mit uns alleine sind, sondern, dass wir gelernt haben, besser mit uns zurechtzukommen.
Und zack, wieder eine Buchempfehlung: Wilhelm Schmid „Mit sich selbst befreundet sein.“ Der Link dazu: unten.
Mit sich befreundet zu sein, meint übrigens nicht, unkritisch zu sein. Ein Einwand, der mir sehr gefallen hat.
Frage: Was sagt Thomas Zimmerman zu der Aussage, die viele Krebspatienten zu hören bekommen: „Ach, Sie sind doch gar nicht mehr belastbar.“
Wenn das jemand im beruflichen Umfeld sagt, empfiehlt er, sofort einen anderen Job zu suchen. Diese Menschen (wenn es Personaler sind) haben erstens ihre Profession verfehlt und erkennen zweitens nicht das Potential.
Insgesamt ist die Arbeit ein wichtiges Gut. Wenn es möglich ist – aber wirklich nur dann – sollte man sie unbedingt wieder aufnehmen.
Wenn wir diese Einschätzung aber über uns selbst haben, dann haben wir es mit den sog. Erwartungsängsten zu tun. Will sagen, ich habe Angst vor Situationen, die noch gar nicht eingetreten sind.
Und dann komm wir noch mal auf den Punkt der Belastbarkeit an und für sich: Genau besehen, sind wir selbstverständlich alle belastbar, denn wir tun ja gewisse Dinge, tagtäglich. Dazu gehören ganz viele „Kleinigkeiten“, die jede/r in ihrer/seiner Weise erledigt. Daher sind wir alle in einem bestimmten Rahmen belastbar, aber eben nicht mehr in dem Maße, wie vor der Erkrankung.
Etwas zu tun, ist aus seiner Sicht immens wichtig.
Mir war dann noch folgendes wichtig:
Nach meiner Diagnose habe ich – Entschuldigung, es wird jetzt etwas pathetisch – eine Metamorphose durchlebt. Ich bin an mir gewachsen. In meinen Abläufen bin ich viel effektiver geworden. Zeit ist ein wichtiges Gut und die möchte ich bewusst verbringen.
Jede Krebspatientin, jeder Krebspatient hat sich einer großen Belastung stellen müssen. Wir haben die Herausforderungen angenommen und versucht, das „neue Leben“ irgendwie zu „handeln, mit Lebensqualität zu füllen.“ Und dafür dürfen, ja müssen wir uns feiern. Wir sind Helden (ich hatte ja vorgewarnt, es wird etwas größer).
Genau so ist, pflichtet mir Thomas Zimmermann bei. Das ist eben eine positive Grundhaltung, die dich stärkt.
Außerdem bedeutet das: „Ich lasse mir nicht von anderen sagen, ob ich belastbar bin oder nicht. Ich verändere meine Tätigkeit vielleicht und passe mich an.“ Und da sind wir wieder bei der Flexibilität.
Frage: Was sollte ich beachten, wenn ich mir einen neuen Job suchen möchte, eine neue Beschäftigung?
Seine Empfehlung: Schaue auf der sogenannten Sachebene, was du kannst und ob es zum Jobprofil passt. Auf der emotionalen Ebene bitte genau nachspüren, ob du in das Team, zum Unternehmen passt – zum Beispiel im Kennenlerngespräch. Frage dich: Fühle ich mich wohl hier? Achte auf dein Bauchgefühl. Beobachte: Wie gehen Sie mit mir um?
Ob du die Krebserkrankung thematisierst, ergibt sich aus dem Moment.
Ich nenne diesen Lebensabschnitt für mich gerne „Meine 2. Chance“ und hoffe, dass es vielen ähnlich geht. Die Diagnose hat mir Türen geöffnet, hinter die ich lange nicht mehr geschaut hatte, manche kannte ich noch gar nicht. Trotzdem musste ich lernen, den Krebs in meiner Vita einzubauen.
Das gelingt mir immer besser und ich hoffe, dass es dir auch so geht oder bald so gehen wird. Denn auch ich war am Anfang überhaupt nicht so weit. Die Reflexion, die zahlreichen Erkenntnisse kamen erst später. Also bitte nicht ungeduldig sein. Erst kommt das Reagieren, das Organisieren, das Strukturieren und dann erst das Reflektieren. Der Ablauf ist (fast) immer derselbe.
Hier nun alle Links und Leseempfehlungen für dich. Thomas Zimmermann und ich hoffen, du konntest etwas Honig aus unserem Gespräch saugen.
Alles Liebe für dich und pass gut auf dich auf.
Hier geht es zur Tonspur des zweiten Teils unseres Gespräches: #Folge 7 / Episode 11 – Alles auf Neuanfang? – Wenn der Krebs dein Leben auf den Kopf stellt – Teil 2 – Zellenkarussell
Und hier der erste Teil: #Folge 7 / Episode 10 – Alles auf Neuanfang? – Wenn der Krebs dein Leben auf den Kopf stellt – Teil 1 – Zellenkarussell