2 Zweite Phase - TherapieFamilienperspektive

Weihnachten an der Küste, das liegende Pferd und Sinéad O’Connor

Endlich Urlaub … raus aus der Großstadt, raus aus Berlin. Insel, ich komme! Der Weg dahin war nicht ohne. Es hat mich viel Überredungskunst gekostet, denn mein Arzt wollte mich nur ziehen lassen, wenn ich vor Ort eine Klinik oder eine onkologische Praxis finde, die alle zwei Tage meine Blutwerte bestimmen und ihm nach Berlin übermitteln kann. War nicht easy, über die Weihnachtszeit und den Jahreswechsel eine Anlaufstation in Erfahrung zu bringen, denn auch Ärzte machen Urlaub.

Nach viel Telefoniererei war ich endlich fündig geworden. „Jou, dat machen wir gerne für Sie. Wann sind Sie denn anne Küs-te?“ Hurra! Die Formalien wurden geklärt und ich hatte meinen Termin. Ich bedankte mich überschwänglich und bekam als Antwort das von mir persönlich sehr geliebte und durchaus vertraute: „Da nich füa.“ Erst mal durchatmen. Die erste Hürde war genommen. Ich konnte die See schon riechen. Schmunzelnd sagte mein Arzt, als ich ihm von meinem Erfolg berichtete: „Ich habe nichts anderes erwartet, liebe Nella.“ und gab mir und meiner Familie „Grünes Licht“.

Wenn es einmal läuft

Einen Tag vor der Abreise rief mich mein Mann an: „Du, mir ist so ein handynutzender Depp mit Vollgas hinten reingefahren, das Auto hat echt was abbekommen. Bin jetzt in der Werkstatt. Wir bekommen wohl ein Ersatzfahrzeug gestellt. Immerhin.“  Ich dachte, ich höre nicht recht und schrie innerlich Kakao!

Das hatte uns noch gefehlt. Vor allem, weil ich ja so mächtige Rückenschmerzen hatte nach der schicken Aufbauspritze. Meine Blutwerte waren ziemlich im Keller, vor allem die Leukos. Vor der Verabreichung hatte mir mein Arzt noch prophezeiend gesagt: „Das kann sich im Laufe des Tages anfühlen, als hätte sie ein Pferd in den Rücken getreten.“ Ja stimmt, so war das auch. Meins hatte nur leider besonders viel Power. Vor der Abfahrt hatte ich mich noch mal in die Praxis begeben. Ich brauchte dringend eine fette Portion Schmerzmittel per Infusion. Und jetzt das! Ein anderes Auto. Nicht die gemütlichen Sitze, die mir die Fahrt erleichtert hätten, nein. Wenn es einmal läuft …

Das liegende Pferd

Also quälte ich mich zugedröhnt bis unter die Halskrause, ins geliehene Töff-Töff. Ein Franzose und nicht der von uns so geliebte Schwede. Nach 6 Stunden Fahrt robbte ich in die Ferienwohnung und warf mich gleich aufs Bett. Geschafft, uffz. Aber leider ging der Ritt weiter. Es wurde immer schlimmer. Inzwischen hatte sich das Pferd komplett auf meinen Rücken gelegt. Mir schossen die Tränen in die Augen. Verzweifelt rief ich den Doc auf seiner Hotline an. Ab ins Krankenhaus, war seine Empfehlung. Diese eindeutigen Ansagen kannte ich ja schon.

Weihnachten werden die Betten knapp

Kaum dort angekommen, steckten sie mich gleich ins Bett und schoben mich auf den Flur. Die Notaufnahme in diesem Mini-Krankenhaus war rappelvoll. Als ich fragte, warum dies so sei bekam ich die Antwort, das sei immer kurz vor Weihnachten so, die Leute hätten einfach Angst über die Feiertage allein zu Hause zu sein. Da lassen sie sich unter irgendeinem attestierten medizinischen Vorwand lieber ins Krankenhaus einweisen. Oh je, das wusste ich nicht. Andererseits konnte ich diesen kleinen Kniff auch irgendwie verstehen. Zum Mitleid gesellte sich ein noch beklommeneres Gefühl für diese Patienten. Irgendwie bedrückend.

Blut „to-go“ – Transfusion auf dem Flur

Noch auf dem Flur erfolgte die Blutentnahme. Ergebnis: HB 6! Holla, das war nicht viel. Die Blutkonserve kam erfreulicherweise fix. Kaum an die Infusion angeschlossen, schoben sie mich auch endlich in ein Krankenzimmer. Im Dezember auf dem Gang liegen, ist nicht besonders spaßig, weil kalt. Ich fror sowieso neuerdings wie ein Schneider. Der diensthabende Arzt betrat das Zimmer und machte die Anamnese. Schnell wurde beschlossen, dass ich Morphium gegen die Schmerzen bekommen sollte. Der Hinweis, dass ich eventuell Halluzinationen haben könnte, schreckte mich nicht ab, im Gegenteil ich freute mich fast drauf. Alles war besser, als diese fürchterlichen Schmerzen.

Trampel in Weiß

Nachdem ich die Portion Morphium intus hatte, rutschte der Schmerz erst mal zur Seite und legte sich dann tatsächlich neben mich ins Bett. Schließlich begann mein Körper zu schweben und alles wurde leicht und leichter. Ich war komplett tiefenentspannt. Auch der HB bekrabbelte sich langsam. Blöd nur, dass ich noch sehr gut hören konnte, denn vor der Tür hörte ich den diensthabenden Arzt ein „ist denn auf Pankreas-Karzinom untersucht worden, flüstern. Das kann man aus meiner Sicht nicht völlig ausschließen.“ Mir schoss das Blut in den Kopf, ich hörte nur noch ein Rauschen in den Ohren, mir wurde extrem schlecht. Es war kaum auszuhalten. Selbst bei meiner Diagnose hatte ich nicht so eine Todesangst gehabt wie jetzt. Ich wusste ungefähr, was das bedeuten würde.

Onko-Hotline, die Zweite

Eine liebe Freundin hatte diese Krankheit nicht überlebt und mir war doch gesagt worden, dass ich mit 80 – 90 prozentiger Wahrscheinlichkeit (zu dem Thema Statistik und was die Zahlen einem sagen, werde ich noch mal spezieller eingehen) wieder geheilt werden würde. Bei Pankreas-Krebs war diese Prognose eindeutig schlechter. Unter Tränen rief ich sofort wieder die Onko-Hotline an und berichtete meinem Berliner Arzt von dem Gespräch vor der Tür. Der war entsetzt und verlangte sofort nach dem Arzt, der diese Annahme so unpassend, ungeschickt und vor allem für mich hörbar formuliert hatte. „Machen Sie sich keine Sorgen, liebe Nella, das stimmt einfach nicht. Das zu behaupten, ist unverantwortlich. Gut, dass Sie mich angerufen haben.“ Er war fassungslos.

(Anmerkung der Redaktion: Bitte immer, immer bemerkbar machen, wenn Ihr merkt, hier läuft etwas schief. Das habe ich von Anfang an instinktiv beherzigt. Was belastet, muss besprochen werden! Das hilft und bringt Klarheit. „Der nervende Patient wird schneller behandelt“, sagte mir mal eine kluge und liebe Psychoonkologin. Und Zeit ist eine wichtige Währung.)

„Chefarzt, übernehmen Sie“

Ich klingelte nach der Schwester und ließ den Arzt kommen. Der betrat das Zimmer und ich drückte ihm wortlos mein Mobilephone in die Hand. Kaum drin verließ er samt Telefon den Raum. Ich hörte nur „Ja, ja …. mmmh …. ach so ….“ begleitet von verlegenem Stottern. Dem wurde grade mächtig der Kopf gewaschen. Das war ja wohl das Mindeste. Nach geraumer Zeit gab mir die Schwester mein Handy zurück und streichelte meinen Arm. „Alles geklärt. Tut mir leid, dass Sie den Gedankenaustausch mitbekommen haben, aber gut, dass Sie sofort so reagiert haben. Der Chefarzt kommt gleich zu Ihnen und wird sich bei Ihnen für das Verhalten des Arztes entschuldigen. Er selbst wird nicht mehr in Ihr Zimmer kommen.“ Ich brachte nur noch ein mattes „Danke“ zustande und gab mich der Wirkung des Morphiums hin. Dieses „Trampel in Weiß“ wollte ich auch nie wiedersehen – geschweige denn hören.

Das größte Weihnachtsgeschenk – Entlassung

Mein Mann, den ich vor meinem betreuenden Arzt in der Heimat natürlich auch von dieser Begebenheit berichtet hatte, hatte sich sofort ins Auto geschwungen und war zu mir gebraust. Die Gedanken, die ihm auf der Fahrt zu mir durch den Kopf gegangen sind, kann ich nur erahnen. Die Kinder waren Gott sei Dank mit Freunden beim Ponyreiten und Stallausmisten. Pünktlich zum Heiligabend wurde ich am 24.12. um Zehn Uhr entlassen. Das war ein Fest. Nie zuvor hatte Weihnachten einen so speziellen Zauber für mich gehabt. Ich war so glücklich bei meiner Familie sein zu können.

Schnipp-schnapp, Haare ab

Noch im „alten Jahr“ begann dann auch langsam der Haarausfall. Die Perücke hatte ich natürlich dabei. Kurz entschlossen, machte ich noch vor dem Jahresende einen Termin bei der Insel-Friseurin. Fürs neue Jahr wollte ich „nackte Tatsachen“ schaffen, obenrum natürlich. Mein Mann kam mit und hielt mir das Händchen. Eigentlich hatte ich vorher ja noch überlegt, mir erst einen coolen Bob schneiden zu lassen und mich langsam an die unvermeidliche Glatze heranzutasten. Aber die weise Perückenlady gab mir den Rat: „Machen Sie das nicht. Investieren Sie das Geld lieber in einen schönen Abend mit Ihrem Mann, oder der Familie.“ Recht hatte sie. (Übrigens: Ich hätte mir die Glatze auch im Perückengeschäft schneiden lassen können. Ist auch eine gute Option – denn wo, wenn nicht hier, kennen sich die Menschen mit diesem Thema aus und gehen liebevoll mit dir um – und darüber hinaus auch noch eine kostengünstige bis kostenneutrale.)

Tagesengel

Gut, nun war der Tag gekommen. Die Friseurin hatte ich kurz vorher eingeweiht. Ich kannte sie ja schon von anderen Friseurbesuchen und wusste, dass ich bei ihr in guten Händen war. Sie wies mir einen etwas abseitigen Platz zu und sah mich liebevoll an. „Ich habe letztens erst von einer herzergreifenden Mädelsaktion gehört, die sich alle aus Solidarität mit ihrer Freundin auch die Haare abrasieren ließen und das auch gefilmt haben.“, erzählte sie einfühlsam. Ich fand das äußerst charmant und musste schmunzeln. Dann fragte sie: „Wollen wir anfangen?“ Ich holte tief Luft und sagte: „Okay, let´s go.“ Sie fing an zu schneiden und erklärte mir Schritt für Schritt, was sie jetzt gleich macht. Dann sagte sie: „Oh, ich sehe schon, Sie haben einen schönen Kopf, das wird toll aussehen.“ Und „ich nehme nicht alles weg und lasse noch ein wenig stehen, so vier Zentimeter. Ist ja auch kalt draußen.“ Dann war plötzlich Schweigen hinter mir und ich merkte, jetzt ist es passiert, alles weg.

„Ich bin stolz auf dich“

„Wissen Sie, an wen Sie mich erinnern? Sie sehen aus wie Sinéad O’Connor. Wirklich.“ Mein Mann sah mich verliebt an und nickte. Ist nicht das Schlimmste, was einem gesagt werden kann, fand ich. Trotzdem setzte ich fix meine Perücke auf und bedachte meinen „Engel des Tages“ mit einem saftigen Trinkgeld. In der Ferienwohnung warteten schon meine Kinder und sahen mich erwartungsvoll an. „Mach doch mal die Perücke runter“, forderte mich meine Tochter auf. Ich setzte mich aufs Sofa und streifte die Perücke ab. Beide Kinder fuhren vorsichtig mit ihren Fingern über meine raspelkurzen Haare. „Ich bin stolz auf dich, Mama“, flüsterte mein Töchterlein und wir drückten uns fest – alle vier.

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